Das Ende der (bezahlten) Arbeit?

Wenige Monate nach der Bundestagswahl (Sept. 2005) fand in Berlin unter dem Titel „Das Ende der (bezahlten) Arbeit?“ auf Einladung der CDU eine öffentliche Diskussionsveranstaltung mit den beiden Ökonomen Jeremy Rifkin und Hans-Werner Sinn statt, die zu dieser Frage entgegengesetzte Positionen vertreten. Anscheinend hat sich in der Ruhe nach der Wahlkampfschlacht, die wie schon vorausgehende Male von der beschwörenden Parole „Arbeit hat Vorfahrt“ geprägt war, bei CDU-Politikern das Bedürfnis eingestellt, über diese viele Energien bindende Prioritätensetzung doch noch einmal – außerhalb der Wahlrivalität – nachzudenken. So versammelten sich am 4. März 2006 Spitzenpolitiker dieser Partei zum „Berliner Gespräch“, um gemeinsam mit der neuen Kanzlerin den Pro- und Kontra-Argumenten Rifkins und Sinns zu lauschen.

Auf dem Server der cesifo-group München, der Hans-Werner Sinn als Präsident vorsteht, befindet sich die Aufzeichnung dieser bemerkenswerten und aufschlussreichen Diskussion, die in wohltuender und bei Fernsehtalkshows leider selten erreichten Sachlichkeit und journalistischer Professionalität unter Leitung von Bernd Ziesemer (Chefredakteur des Handelsblatt) stattfand. Die Videoaufzeichnung dauert 98 Minuten. Zur Ansicht muss man in der Mediathek des Ifo-Instituts im Suchfeld den Titel „Das Ende der (bezahlten) Arbeit“ als Suchwort eingeben. Auf einen bedeutsamen Punkt in der Argumentation von Hans-Werner Sinn sei an dieser Stelle hingewiesen. Sinn verweist in dieser Diskussion zur Widerlegung von Rifkins These vom „Ende der Arbeit“ simplifizierend auf eine 36-prozentige Steigerung des absoluten Arbeitsvolumens in den USA in der Zeit von 1982 bis 2002. Was er dabei bezeichnenderweise außer Acht lässt, ist:

  • dass die Bevölkerung der USA im gleichen Zeitraum um 24 (!) Prozent gewachsen ist. Das Arbeitsvolumen pro Kopf ist also sehr viel geringer angewachsen.
  • dass sich dieses Anwachsen des Arbeitsvolumens pro Kopf zu einem gewichtigen Teil durch die Beschäftigungseffekte eines „Wachstum auf Pump“ erklärt, wie spätestens die gegenwärtige Finanzkrise für die Allgemeinheit offensichtlich werden lässt, aber von Personen wie Rifkin, Emmanuel Todd, Joseph E. Stiglitz und anderen schon seit einigen Jahren angemahnt wird. Ich erinnere mich noch gut an belächelnde Besprechungen, welche die wirtschaftswissenschaftliche Position, dass dieses kreditfinanzierte Wachstum auf Dauer nicht gut gehen kann, in den letzten Jahren erfahren hat.
  • dass sich dieses Anwachsen des Arbeitsvolumens pro Kopf des Weiteren teilweise auch als einkommensbezogener Kompensationsversuch der arbeitenden Bevölkerung deuten lässt, angesichts der durch den technologischen Fortschritt bedingten fortschreitenden ökonomischen Entwertung lebendiger menschlicher Arbeitskraft im Bereich standardisierbarer, im Prinzip rationalisierbarer Routinetätigkeiten. Diese Entwertung zeigte sich in den USA aufgrund der dort vorherrschenden politischen Ökonomie in einer besonders ausgeprägten jahrzehntelangen Stagnation, teilweise sogar einem Sinken, der Löhne.
  • dass das erreichte Wirtschaftswachstum in den USA deutlich beschäftigungsintensiver ausgefallen ist als anderswo und weniger auf technischem Fortschritt und Produktivitätsgewinnen beruht. Das kann man aber schwerlich als Erfolg verbuchen, im Gegenteil. Es sei denn, man betrachtet Erwerbsarbeit als Selbstzweck. Das bedeutete dann allerdings eine Pervertierung der alten Arbeitsethik, in der Arbeit Sinnstiftung bedeutete und dazu auch einen Sinn haben musste und keinen Selbstzweck darstellen durfte. Natürlich kann man das Arbeitsvolumen durch eine entsprechende politische Ökonomie bzw. durch politische Entscheidungen zur Wirtschaftsordnung künstlich hochhalten oder gar ausweiten, indem man „lebendige menschliche Arbeitskraft“ gegen „Maschinenlösungen“ ausspielt und staatlich subventioniert, wie es etwa von Hans-Werner Sinn mit seinem Modell einer „aktivierenden Sozialhilfe“ der Sache nach vorgeschlagen wird. Wenn man allerdings verfügbare Rationalisierungsmöglichkeiten ausschlägt oder gar zu anachronistischen, arbeitsintensiven Arbeitsformen zurückkehrt, um halbwegs Vollbeschäftigung zu erreichen, so geschieht dies um den Preis der Unvernunft und eben einer Pervertierung und Zerstörung des ethischen Wertes von Erwerbsarbeit.

In der Diskussion mit Jeremy Rifkin wird Hans-Werner Sinn auch dessen Hinweis auf eine in den USA besonders stark „geschönte“ Arbeitslosenstatistik wenig gerecht. Rifkin führt zur Veranschaulichung des Problems die riesige Zahl von männlichen Gefängnisinsassen im Erwerbsalter an, die somit dem amerikanischen Arbeitsmarkt entzogen sind. Die USA sind ja erstaunlicherweise weltweit (!) immer wieder Spitzenreiter im Bevölkerungsanteil an Gefängnisinsassen, mit dem sie selbst die repressivsten Staaten wiederholt übertroffen haben – eine beinahe unglaubliche Tatsache für ein ansonsten so modernes Land. Sinn reagiert auf diesen bloß exemplifizierenden Hinweis so, als spiegele die Arbeitslosenstatistik in den USA ansonsten zutreffend den Anteil derer wider, die ungewollt ohne Erwerbsarbeit dastehen, womit er das Argument Rifkins unterläuft.

Will man ernsthaft die These vom Rückgang der quantitativen Bedeutung lebendiger menschlicher Arbeitskraft aufgrund von Produktivitätsfortschritten widerlegen, so darf man nicht wie Sinn verdinglicht allein das absolute Arbeitsvolumen in den Blick nehmen. Man muss neben der Entwicklung des Arbeitsvolumens pro Kopf insbesondere betrachten, inwieweit ein Gemeinwesen in seiner politischen Ökonomie überhaupt die möglichen Produktivitätspotentiale zu nutzen versucht bzw. inwieweit es zur Aufrechterhaltung des Vollbeschäftigungsziels auf die Realisierung solcher Potenziale verzichtet. Das ist nicht nur eine Frage von ökonomischen Kennziffern und von Statistiken, sondern auch der sozialen Deutungsmuster und Habitusformationen, wie sie in Interviews mit Unternehmern, die zu ihren Rationalisierungsentscheidungen befragt werden, oder in politischen Debatten zur Arbeitsmarktkrise zum Ausdruck kommen.

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