Anlässlich der erneuten Rückbesinnung auf „1968“ in diesem Jahr 2018 („50 Jahre 1968“) habe ich bei Youtube nochmals die Videoaufzeichnung einer Podiumsdiskussion zur Verfügung gestellt, die vor zehn Jahren anlässlich des 40. Jahrestages stattfand. Sie bietet m. E. auch heute noch aufschlussreiche Beiträge und zugleich auch Anschauungsmaterial zum Thema. Dies gilt umso mehr, wenn man das zum Zeitpunkt der Freischaltung dieses Textes breit beworbene aktuelle Buch von Heinz Bude zu 1968 berücksichtigt, das den Titel „Adorno für Ruinenkinder – Eine Geschichte von 1968“ trägt und marketingstrategisch zum Auftakt des Jahres beim Hanse-Verlag publiziert und besprochen wurde. Der bei Parteien und Medien beliebte und offensichtlich auch gezielt die Anerkennung von dieser Seite suchende Soziologe Bude, der unter anderem durch seine Generationenstudie „Deutsche Karrieren – Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation“ bekannt geworden ist, spricht darin nämlich in Wahrheit gar nicht über die 1968er-Generation, sondern überwiegend über die Generation davor, eine Verwechslung, die durchaus verbreitet ist und Bände spricht über das defizitäre theoretische Verständnis, das Bude vom Prozess der Formation historischer Generationen hat.
Für die Bildung einer historischen Generation ist insbesondere die Adoleszenzphase maßgeblich, in der sich Heranwachsende intensiv mit der Gesellschaft und den in ihr vorherrschenden Diskursen und Anforderungen usw. auseinandersetzen, um ihren je eigenen Lebensentwurf auszubilden, mit dem sie dann als Erwachsene ihren Platz in der Gesellschaft finden und praktische Verantwortung übernehmen können. Der so ausgebildete Lebensentwurf kann zwar später natürlich je individuell noch weiterentwickelt werden. Aber das ist dann keine Selbstverständlichkeit mehr und sehr individuell. Und im Durchschnitt der Generation gesehen gibt es später nie wieder eine vergleichbar intensive Phase der Auseinandersetzung und bleibt ein Gepräge aus dieser intensiven Adoleszenzphase in der Breite der Generation erhalten. Aus diesem Grund muss man für die Jahrgangszurechung auch die Jahre der Adoleszenz zugrundelegen, die bei den 1968ern in den 1960er Jahren liegt (also bis zum Jahr 1968). In diesem Jahrzehnt greift vor dem Hintergrund des geschafften Wiederaufbaus und des konsolidierten Wirtschaftsaufschwungs ein geistiges Durchatmen in der Gesellschaft Raum, das von den unmittelbaren Notwendigkeiten der Alltagspraxis allmählich Abstand gewinnt und dadurch einen durch die Kriegsjahre bedingten großen Enttraditionalisierungsstau auf die Tagesordnung des gesellschaftlichen Diskurses rücken lässt. Die eigentlichen 1968er, über die Bude eben nicht wirklich spricht, sind die Adoleszenten dieses geistigen Aufbruchs, so wie etwa Daniel Cohn-Bendit, der mit Ulrich Oevermann als einem Angehörigen eben jener älteren Generation diskutiert, die Bude mit den 1968ern (als einer Generation) verwechselt. Die Differenz der Generationen ist gerade in dem Streitgespräch zwischen Oevermann und Cohn-Bendit deutlich greifbar, sie war es übrigens auch im Publikum, in dem viele Alt-1968er mit höhnischem Lachen die Pointen ihrer Ikone Daniel Cohn-Bendit quittierten, die dieser in der Lautstärke des Straßenagitators immer wieder gegenüber Oevermann zu platzieren versuchte, ein vergleichsweise „ungehobeltes“, wenig kultiviertes Diskussionsgebaren, das nicht wenige Studierende im Publikum, die diese Kultur der Auseinandersetzung noch nicht kannten, sehr verwunderte.
Oevermann wurde 1940 geboren. Die 1968er-Generation ist demgegenüber jene Altersgruppe, die ab 1945 geboren wurde, so wie eben der 1945 geborene Daniel Cohn-Bendit oder der 1948 geborene Josef („Joschka“) Fischer. Wichtig ist diese Differenz vor allem deswegen, weil mit der Geburt 1945 eine enorme Privilegiertheit verbunden ist, die für vorausgehende Jahrgänge noch nicht galt. Z. B. das Aufwachsen in vollständigen Familien. Das war bei den Jahrgängen davor zu einem großen Prozentsatz nicht der Fall. Der Verlust des Vaters im Krieg war ein Massenschicksal, über das man sich individuell nicht einmal groß beklagen konnte, weil es für Viele in der Altersgruppe galt. Für Oevermanns Generation gilt aber auch, dass sie noch deutliche Kindheitserinnerungen an die Kriegstage hat, was typischerweise dazu führt, dass der Wirtschaftsaufschwung usw. auch vor dem Hintergrund von Erinnerungen aus einer Zeit der Entbehrung und des Kriegs gesehen wird. Der Aufschwung erscheint deswegen weniger selbstverständlich und wird mit einer größeren Dankbarkeit und Demut erlebt, wohingegen die 1968er-Generation charakteristischerweise die privilegierten Bedingungen, unter der sie aufwuchs, schon als vollkommen selbstverständlich erlebte und sich oft ihrer Privilegiertheit gar nicht so recht bewusst war, im übrigen auch im Hinblick auf nachfolgende Generationen, bei denen sich dann sehr bald die Prekarisierung der Zukunftsperspektiven und des Arbeitsmarktes bemerkbar machte. Die 1968er-Generation ist demgegenüber in der Perspektive aufgewachsen, sicher sein zu können, das zu werden, was man sich vorgenommen hat, sofern man die dazu nötige Lern- und Leistungsbereitschaft mitbringt. Das ist heute schon lange nicht mehr der Fall. Und es war für die vorausgehenden Generationen auch noch nicht der Fall.
Die 1968er-Generation ist in puncto Enttraditionalisierung die eigentliche radikale Avantgarde, mit allem, was damit an praktischen Konsequenzen, Vor- und Nachteilen, verbunden ist. Zwar haben auch vorausgehende Generationen an der Enttraditionalisierung auf vielen Gebieten Anteil genommen, aber sich dabei oft eine gewisse Resttraditionalität bewahrt, die z. B. generationenweit auch gewisse Anstandsregeln sicherstellte. Das mittlerweile stark verbreitete, moralisch zweifelhafte Phänomen der Vergoldung einer Politikerlaufbahn in der Wirtschaft nach dem Ausscheiden aus der Politik findet man z. B. erst ab der 1968er-Generation. Erst ab der 1968er-Generation ist auch bei der Vereidigung von Ministern eines Bundeskabinetts das Schwören auf die Bibel tendenziell zur Minderheitenveranstaltung geworden, erstmals mit dem rot-grünen Schröderkabinett. Die Generation davor, der Oevermann angehört, hält demgegenüber trotz aller geistigen Modernisierung in der Regel noch an einer Kirchenmitgliedschaft fest, die erst in späteren Generationen zu einer wirklich individuellen Angelegenheit wurde. Vieles wäre dem noch hinzuzufügen, so auch der kulturrevolutionäre Habitus, der sich bei der 1968er-Generation vor dem Hintergrund der Privilegiertheit und weiterer Bedingungen ausgebildet hatte und in den grundstürzenden „Reformen“ zeigte, die mit den Schlagworten „aktivierender Sozialstaat“ und „Bologna-Reformen“ verbunden waren. Aber dafür muss erst einmal klar sein, um welche Altersjahrgänge es bei der 1968er-Generation geht: um die zwischen 1945 und etwa 1952 Geborenen. Danach wuchs eine Generation heran, die in ihrer Adoleszenz bereits von der Eskalationsentwicklung ab 1968 hin zum deutschen Herbst und zum Linksterrorismus u. a. geprägt worden ist, eine Generation, der auch der 1954 geborene Heinz Bude angehört.
Podiumsdiskussion „Mai 1968: 40 Jahre danach – und nun?“ am 2. Juni 2008 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zwischen Daniel Cohn-Bendit und Ulrich Oevermann
Veranstaltet von der Deutsch-Französischen Gesellschaft Frankfurt am Main e. V., dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und dem Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Goethe-Universität, Frankfurt am Main.
Moderation: Christophe Braouet
Videoaufzeichnung. Manuel Franzmann
Ankündigungstext des Veranstalters:
„FRANKFURT. Hat der Mai 1968 die Denkweisen und Wahrnehmungen von Hierarchie und Autorität, aber auch vom Verhältnis der Geschlechter verändert? Was hat die Bewegung in der Praxis bewirkt? Darüber diskutieren am Montag (2. Juni) um 19 Uhr auf dem Campus Westend Daniel Cohn-Bendit, damals einer der Sprecher der Pariser Mai-Revolution und heute Mitglied des Europa-Parlaments, und Prof. Ulrich Oevermann, emeritierter Professor für Sozialisationsforschung und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität. Moderiert wird die Podiumsdiskussion, die vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und dem Institut für Romanische Sprachen und Literaturen sowie der Deutsch-Französischen Gesellschaft Frankfurt veranstaltet wird, von der Politologin Prof. Uta Ruppert und dem Präsidenten der Deutsch-Französischen Gesellschaft Christophe Braouet.
Cohn-Bendit wurde nach den Mai-Unruhen von der französischen Regierung des Landes verwiesen und war Mitbegründer der Gruppe ›Revolutionärer Kampf‹ in Frankfurt, er war ebenso Herausgeber des Szene-Magazins ›Pflasterstrand‹. Seit 1984 ist Cohn-Bendit, der seine Kindheit in Frankreich und Deutschland verbrachte, Mitglied der Grünen, seit 1994 Mitglied im Europaparlament.“