In Südkorea gibt es eine Regionalregierung unter der Leitung des Gouverneurs Lee Jaemyung, die seit Jahren verschiedene Wege ausprobiert, sich einem vollumfänglichen bedingungslosen Grundeinkommen anzunähern. Seit 2019 wird vor diesem Hintergrund an junge Erwachsene, die in der Provinz Gyeonggi-do rund um Seoul wohnhaft sind, ein „Youth Basic Income“ in Form einer Regionalwährung ausgezahlt, und zwar für die Zeit, in der sie 24 Jahre alt sind, also für ein Jahr. In diesem Alter sind viele junge Erwachsene mit ihrer Ausbildung bzw. einem Studium fertig und stehen vor dem Problem, den Sprung auf eine Arbeitsstelle schaffen zu müssen. Die Höhe der Grundeinkommenszahlung, die allen 24-Jährigen auf Antrag offen steht, deckt den Lebensunterhalt zwar nicht vollständig ab, aber doch einen beachtlichen Teil davon. 175.000 junge Erwachsene im Alter von 24 Jahren in der Region sind von dieser Politik betroffen. Damit gehört diese Grundeinkommenspolitik zu den umfassendsten diesbezüglichen Unternehmungen weltweit. Die Verantwortlichen, mit denen ich im Kontakt stehe, legen dabei zurecht großen Wert darauf, dass es sich nicht bloß um eine Pilotstudie handelt, sondern um eine auf Dauer angelegte, praktizierte Politik, die zudem das Ziel verfolgt, sukzessive erweitert und zu einem vollumfänglichen Grundeinkommen ausgebaut zu werden. Dennoch findet natürlich auch eine wissenschaftliche Begleitforschung statt, für die das Gyeonggi Research Institute (GRI) zuständig ist, das für die Provinzregierung Forschung betreibt und für letztere eine Art Think-Tank ist.
In diesen Tagen werden neue Forschungsergebnisse veröffentlicht, die mir vorab vorliegen. Ich habe den Kolleg*innen des GRI angeboten, die Ergebnis-Zusammenfassung am Ende ihres Forschungsberichts ins Deutsche zu übersetzen und damit auf meiner Website auf die Follow-Up-Studie aufmerksam zu machen. Diese führt eine erste Studie von 2019 weiter, nun da ein Jahr vergangen ist und die erste Kohorte von 24-Jährigen ihre einjährigen Grundeinkommenszahlungen erhalten hat. Die vierteljährliche Auszahlung hat im Jahr 2019 mit der ersten Runde am 1. April begonnen und endete mit der vierten Runde am 1. Januar (bis 29. März 2020).
Die erste Studie von 2019 trug den Titel: Analysis of the Effects of the Youth Basic Income Policy in Gyeonggi Province: Comparison of the Ex-Ante and Ex-Post Surveys. (Download)
Der Titel der neuen Studie von 2020 lautet: Analysis on the Policy Effects of Youth Basic Income in Gyeonggi Province(II) : Comparison of Ex-Ante and Ex-Post Survey. (Download des Abstracts) (Download der pdf)
Bibliografische Zitation: Yoo, Young Seong et al. (2020): Analysis of the Policy Effects of Youth Basic Income in Gyeonggi Province (II) : Comparison of the Ex-ante and Ex-post Surveys. Suwon: Gyeonggi Research Institute (Policy Studies 2020-78). 223 Seiten pdf. Download
Zusammenfassung der Forschungsergebnisse im offiziellen Untersuchungsbericht: (deutsche Übersetzung der Schlussabsätze auf S. 198-99 der englischsprachigen PDF-Publikation, durch Manuel Franzmann): "Die Ergebnisse des t-Tests der quantitativen Erhebung zeigten die positiven Auswirkungen des Gyeonggi-do Youth Basic Income [im Folgenden „YBI“ abgekürzt, M.F.] in mehreren Hinsichten. Erstens verbesserte sich das allgemeine Wohlbefinden der jungen Menschen nach Erhalt des YBI. Zweitens: (i) Junge Menschen in der Provinz Gyeonggi verzeichneten einen statistisch signifikanten Anstieg ihrer Wochenarbeitszeit im Vergleich zu jungen Menschen in anderen Regionen, (ii) das Einkommen stieg sowohl in der Versuchs- als auch in der Vergleichsgruppe, aber in der Versuchsgruppe, die das YBI erhielt, nahm die Abhängigkeit von Unterstützungszahlungen (z. B. durch Eltern) ab, und die Ausgaben für soziale und Freizeitaktivitäten stiegen an. Drittens: Sowohl die Versuchsgruppe in Gyeonggi-do als auch die Vergleichsgruppe außerhalb dieser Region schätzten ihre wirtschaftliche Situation im Durchschnitt als „instabil“ ein, jedoch ergab die Nachbefragung, dass sich die wirtschaftlichen Aktivitäten der Gyeonggi-YBI-Gruppe verbessert hatten. Viertens: Hinsichtlich der Wahrnehmungen und Einstellungen zeigte die YBI-Gruppe eine signifikante Veränderung, mit einem statistisch signifikanten Anstieg des Vertrauens in Gesetze und Institutionen, in Politiker und in die Medien – nach Erhalt des einjährigen Grundeinkommens. Fünftens war das Niveau des „Traumkapitals“ [„dream-capital“]1 bei den YBI-Jugendlichen im Allgemeinen hoch. Die Ergebnisse der DID-Analyse der quantitativen Erhebung werden in den folgenden sieben Punkten zusammengefasst. Erstens, die Zufriedenheit der jungen Menschen nahm zu. Zweitens, die Korrelation zwischen psychischer Gesundheit, Bewegungshäufigkeit und guter Ernährung war positiv. Drittens, das Vertrauen, das Bewusstsein für die Geschlechter und die soziale Gleichheit wurden gestärkt. Viertens, das „Traumkapital“ wurde in allen Bereichen gestärkt, einschließlich Phantasie, Hoffnung, Optimismus und Widerstandsfähigkeit. Fünftens, was die wirtschaftliche Aktivität betrifft, so war die Erhöhung der Anzahl der Arbeitsstunden der YBI-Teilnehmer positiv korreliert, wenn andere Variablen kontrolliert wurden. Sechstens, die Empfänger verfügten über mehr Freizeit, einschließlich mehr Zeit zum Schlafen, Essen, für Hausarbeit, die Familie, die Selbstentwicklung/ Lernen/ Übungen, für Gemeinschaft und Freizeit, für ehrenamtliche Arbeit und soziale Aktivitäten. Sie gaben an, weniger Zeitmangel zu haben und sich mehr an verschiedenen sozialen Aktivitäten zu beteiligen. Siebtens, die Ausgaben für Selbstentfaltung/ Bildung sind deutlich gestiegen. Wie bei der Erhebung 2019 wurde die qualitative Studie nur unter 24-Jährigen mit Wohnsitz in der Provinz Gyeonggi durchgeführt, die vier Runden von Gyeonggi YBI-Zahlungen, d. h. insgesamt 1 Mio. KRW, erhielten. Die Studie bestand aus Einzelinterviews und Fokusgruppen-Befragungen unter Verwendung eines halb-strukturierten Fragebogens. Insgesamt 42 Teilnehmer nahmen an den Einzelinterviews und den Fokusgruppen teil. Ziel der qualitativen Studie war es, die Implementation und den Erhalt des Gyeonggi YBI, die Wahrnehmung und den Gebrauch des YBI, das Leben der jungen Erwachsenen, ihr Verständnis des Grundeinkommens und mögliche Lebensveränderungen in der Zukunft zu verstehen. Die YBI-Empfänger legten in der Umfrage ihre Sichtweisen dar, die wie folgt zusammengefasst werden. Erstens stellten die Teilnehmer mehrere wichtige Fragen zur Bedeutung der Begriffe „Jugend“ und „Grundeinkommen“ im Kontext der YBI-Politik. Zweitens schilderten sie, wie ihnen das YBI, auch wenn es in seiner Höhe nicht zum Leben ausreichte, geholfen hat und wie sie die Lücke zwischen den unzureichenden Leistungen und einem „Grund“-Einkommen wahrnehmen. Drittens wiesen sie darauf hin, dass die befristeten YBI-Zahlungen es ihnen nicht ermöglichten, die Geldverwendung angemessen zu planen und einzusetzen. Sie fanden sie jedoch sinnvoll, da sie ihre Region beim Geldausgeben neu entdeckten und zur Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft beitragen konnten, weil sie das YBI in Form einer lokalen Währung ausgaben, in der das Grundeinkommen ausgezahlt wurde. Viertens erörterten sie, wie die Jugend, die in Korea umgangssprachlich als „grünes Alter“ bezeichnet wird, von den Teilnehmern wahrgenommen wird. Fünftens betrachteten sie Korea als eine extrem kompetitive und sozial ungleiche Gesellschaft. Sechstens waren sie sich der Bedeutung der Aspekte Bedingungslosigkeit, Universalität und ausreichende Höhe eines Grundeinkommens bewusst und erwarteten, dass es in Zukunft dazu beitragen kann, eine Gesellschaft zu schaffen, in der sie die Chance haben, neu anzufangen und neue Dinge auszuprobieren, ohne Angst vor dem Scheitern. Gleichzeitig äußerten einige von ihnen aber auch Bedenken gegenüber der Idee des Grundeinkommens. Siebtens waren sie der Meinung, dass die Aussichten gut sind, dass ein Grundeinkommen in ausreichender Höhe positive Veränderungen in ihrem Leben bewirken wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Grundeinkommen in der Provinz Gyeonggi die jungen Empfänger aufgrund ihrer Erfahrungen im vergangenen Jahr in verschiedener Hinsicht positiv beeinflusst hat, wie sowohl die quantitative als auch die qualitative Umfrage zeigen. Im Falle der quantitativen Umfrage gab es einige statistisch unbedeutende oder negative Auswirkungen, aber die Auswirkungen waren insgesamt positiv. Bei der qualitativen Umfrage wurden auch vertiefte Wahrnehmungen und Einstellungen erfasst, die in der quantitativen Umfrage nicht ermittelt werden konnten, und sie waren überwiegend positiv gegenüber dem YBI."
Ich habe den neuen Forschungsbericht vollständig gelesen und möchte vor diesem Hintergrund darauf hinweisen, dass diese (übersetze) Zusammenfassung nur einen sehr groben Überblick bietet, der die Lektüre des Berichts keineswegs ersetzen kann. Die Studie enthält neben einem quantifizierenden, statistischen Untersuchungsteil, der noch am ehesten zusammenzufassen wäre, weil Statistiken nun einmal vergleichsweise abstrakte Erkenntnisse liefern, auch die Ergebnisse des „qualitativen“ Teils, der viele interessante Details und Befunde enthält, die in einer so kurzen Zusammenfassung nicht mehr dazustellen sind. Zwar handelt es sich bei dem „qualitativen“ Teil nicht um eine ambitionierte fallrekonstruktiv-strukturanalytische Grundeinkommensforschung, wie ich sie seit Langem vorschlage, sondern nur um eine vergleichsweise kursorische, inhaltsanalytische Zusammenfassung von Aussagen aus den Einzelinterviews und Fokusgruppen, die von einem externen Marktforschungsunternehmen als Dienstleistung beigetragen worden sind. Aber selbst diese Form von qualitativer Forschung ist in den Erkenntnisinhalten sehr viel reichhaltiger und konkreter als der statistische Teil, der im Vergleich dazu jedoch naturgemäß den Vorzug bietet, frequenzanalytische Aussagen zu ermöglichen, die den statistisch-repräsentativen Durchschnitt betreffen.
Fußnoten:
1. „Dream-capital“ ist ein begriffliches Konstrukt der bzw. für die Umfrageforschung, das an Pierre Bourdieus Kapitalbegriff, insbesondere an die Idee eines „symbolischen Kapitals“, anzuknüpfen versucht und den Fokus auf den subjektiven Zukunftsoptimismus legt. Das Konstrukt wurde von dem südkoreanischen Soziologen Kim Seok-ho und seinem Forschungsteam entwickelt. Das Konstrukt besteht aus einer Skala, die vier Indikatoren oder Unterelementen umfasst: Vorstellungskraft, Hoffnung, Optimismus und Resilienz, die wiederum mithilfe von insgesamt 15 Fragen über Umfragen zu messen versucht werden. Methodisch lassen sich hier sicherlich auch kritische Fragen aufwerfen, obgleich der Erhebungsversuch m.E. thematisch interessant erscheint.