Die historischen Debatten & ‚Sozialexperimente‘ der 1960er & 1970er-Jahre in Kanada & den USA zum „garantierten Grundeinkommen“

In den letzten Jahren hat das Interesse an der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens („BGE“) und ihrer praktischen Erprobung in einer Reihe von Ländern rapide zugenommen, und es scheint mittlerweile auch in die Politik vorzudringen.

Einige Beispiele (durch Anklicken ausklappen!):

2016 kündigte der kanadische Premierminister Justin Trudeau ein Grundeinkommenspilotprojekt in Ontario an, das dann im Jahr 2017 von der liberalen Regierung der Provinz gestartet wurde. (Allerdings wurde es nach einem Regierungswechsel kurz darauf einfach abgebrochen. URL1URL2) In den Vereinigten Staaten warb Andrew Yang als demokratischer Präsidentschaftsbewerber während der Vorwahlen 2020 für eine „Freiheitsdividende“ als Antwort auf die sich abzeichnenden Folgen der Digitalisierung. Michael D. Tubbs, der ehemalige Bürgermeister von Stockton in Kalifornien, rief 2020 die landesweite Initiative „Mayors for a Guaranteed Income“ (Bürgermeister für ein garantiertes Einkommen) ins Leben, nachdem er in den Jahren zuvor in seiner Stadt ein Grundeinkommensexperiment durchgeführt hatte (Stockton Economic Empowerment Demonstration „SEED“). Diese Gruppe von Bürgermeistern ist seither stark gewachsen und führt nun in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Einrichtungen verschiedene Pilotprojekte auf kommunaler Ebene in ganz Amerika durch (URL).

Eine ähnliche Entwicklung ist in Großbritannien zu beobachten, wo immer mehr Stadtparlamente Experimente zum Grundeinkommen befürworten. In Schottland kündigte die Regierungschefin Nicola Sturgeon im Jahr 2017 an, dass ihre Regierung Kommunen bei der Erprobung eines Grundeinkommenssystems finanziell unterstützen werde (URL). Im Jahr 2021 folgte die walisische Regierung und kündigte einen Plan für ein Pilotprojekt in Wales an (URL).

In Kontinentaleuropa hat die finnische Regierung die nationale Sozialversicherungsagentur KELA beauftragt, von 2017 bis 2019 eine große Studie zum BGE durchzuführen (URL). In den Niederlanden, Frankreich, Italien, Spanien und der Schweiz sind verschiedene lokale Pilotprojekte im Gange. Auch Deutschland ist 2020 zu der Gruppe von Ländern zugestoßen, die eine Erprobung des BGE vorantreiben, angetrieben durch zwei Bürgerinitiativen (URL1, URL2). Im selben Jahr begannen mehrere politische Parteien des Landes, die Idee in ihre Parteiprogramme aufzunehmen.

In Asien hat sich Südkorea zu einem Hotspot der BGE-Politik entwickelt. Im Jahr 2015 führte der damalige Bürgermeister Lee Jae-myung in der Stadt Seongnam, der zehntgrößten Stadt Südkoreas in der Nähe von Seoul, ein „Jugendgrundeinkommen“ ein. Im Jahr 2018 wurde er dann Gouverneur der Provinz Gyeonggi, dem koreanischen Silicon-Valley rund um Seoul. Seit 2019 erhalten 175.000 junge Erwachsene dieser Region im Alter von 24 Jahren ein Jahr lang das Jugendgrundeinkommen, das vom Gyeonggi-Research-Institute (GRI) wissenschaftlich begleitet wird (URL). Die Corona-Pandemie veranlasste den Gouverneur, eine zeitlich begrenzte, bedingungslose Katastrophenhilfe für alle Altersgruppen in der Provinz Gyeonggi einzuführen. Er kandidiert 2021 für das Präsidentenamt mit dem Versprechen, seine BGE-Politik zu einem landesweiten, vollwertigen BGE auszuweiten.

Das Interesse an BGE wächst auch in Indien, Südamerika und Afrika, wo die Nichtregierungsorganisation „GiveDirectly“ 2016 im ländlichen Kenia den bisher größten BGE-Versuch startete, an dem auch der Wirtschaftswissenschaftler Abhijit Banerjee (MIT) beteiligt ist, der 2019 zusammen mit Esther Duflo und Michael Kremer den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. In vielen Ländern auf der Welt hat COVID-19 Debatten über das BGE angeheizt, was nun einige dazu veranlasst hat, zu argumentieren, dass direkte Bargeldtransfers Volkswirtschaften ermöglichen, während einer Pandemie stabil bzw. „resilient“ zu bleiben.

>>Eine (unvollständige) Liste vergangener, aktueller und geplanter BGE-Experimente auf der Welt

Wenn man in die Geschichte zurückblickt, stellt man fest, dass es bereits eine Zeit intensiver Debatten und „Sozialexperimente“ zum bedingungslosen bzw. „garantierten Grundeinkommen“ gegeben hat. Nicht überall auf der Welt, aber in Nordamerika (Kanada und USA). Die Beschäftigung mit dieser Geschichte ist für Zeitgenossen, die sich für das Thema interessieren, ausgesprochen aufschlussreich.

Mit dem Zweiten Weltkrieg endete für die nordamerikanischen Volkswirtschaften endgültig die Epoche der dem Börsenkrach von 1929 folgenden wirtschaftlichen Depression und Stagnation. Vor allem die Nachkriegszeit wurde für einen großen Teil der Bevölkerung zur Wohlstands-Epoche eines „Mittelklasse“-Amerika mit deutlich weniger Einkommensungleichheit als heute – allerdings führten die Länder rassistische Strukturen fort.

Quelle: Our World in Data

Der wirtschaftliche Kontext veranlasste einige Intellektuelle in den USA, mit großem Fortschrittsoptimismus eine Diskussion über neue Ziele zu führen, die das Land angesichts der Wohlstandsentwicklung in der Zukunft anstreben sollte. Der Harvard-Soziologe David Riesman zum Beispiel stellte die Frage: „Wohlstand wofür?“ , nachdem der Harvard-Ökonom, Präsidentenberater und Diplomat John Kenneth Galbraith auf eine mangelnde kulturelle Anpassung der Gesellschaft an den neuen Wohlstand hingewiesen hatte . Der Ökonom und Intellektuelle Robert Theobald diagnostizierte „die Aussicht, ganze Bevölkerungen vom Druck des Mangels zu befreien“ (“the prospect of freeing whole populations from the pressure of want”) . In den 1960er-Jahren gipfelten diese Diskussionen in der ersten gesellschaftlichen Debatte zur Idee eines „garantierten Einkommens“. Der Ausdruck „guaranteed income“ fungierte dabei als ein Oberbegriff, unter dem sowohl die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens als auch einer Negativen Einkommensteuer2 diskutiert wurden . Die Ausdrücke „Basic Income“ oder „Universal Basic Income“ oder „Unconditional Basic Income“ wurden hingegen kaum verwendet.

Dies wird in der folgenden Grafik von Googles Ngram Viewer deutlich, die das Vorkommen ausgewählter Schlüsselwörter in Googles digitalisiertem Buchkorpus anzeigt:

Google Ngram-Viewer für „Amerikanisches Englisch“, Texte von 1945-2019
(Verwenden Sie ein Tablet oder Smartphone? In diesem Fall wird die Grafik wahrscheinlich verzerrt dargestellt. Klicken Sie dann auf den obigen Link, um die Grafik direkt auf den Seiten von Google zu sehen).

Die öffentliche Debatte über ein „garantiertes Einkommen“ und eine „negative Einkommenssteuer“ in den 1960er-Jahren regte eine Serie von „Minimum Income Maintenance Experiments“ an, die von der US-amerikanischen und der kanadischen Regierung finanziert wurden. Das erste Experiment in New Jersey und Pennsylvania wurde 1968 vom „U.S. Office of Economic Opportunity“ gestartet. Weitere folgten in den 1970er-Jahren. Die größte Studie fand in Seattle und Denver (SIME/DIME) statt, bei der über 5.000 Personen über sechs Jahre lang (1970-76) teilgenommen haben. In Kanada fügte das MINCOME-Experiment im Bundesstaat Manitoba (1974-79) dieser Versuchsreihe eine ausgefeilte Variante hinzu, bei der unter anderem einer ganzen Kleinstadt, dem Ort Dauphin, die Teilnahme ermöglicht wurde, sofern die betreffenden Haushalte unter einem bestimmten Einkommensniveau lagen. Die gesamte Serie von Sozialexperimenten zum garantierten Grundeinkommen in Nordamerika von 1968 bis 1980 ist auch deswegen bemerkenswert, weil zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte in einem solchen Ausmaß ein wissenschaftlich-experimenteller Ansatz auf eine politische Reformidee angewandt wurde, deren Umsetzbarkeit experimentell geprüft werden sollte .

Nach dem Amtsantritt von US-Präsident Richard Nixon im Jahr 1969 intensivierte die U.S.-Regierung einen parteiübergreifenden Prozess zur Umsetzung einer Variante der negativen Einkommenssteuer (des „Family Assistance Plan“), ein Prozess, der schon in vorhergehenden U.S.-Regierungen begonnen worden war . Am Ende scheiterte der Prozess jedoch 1972 im US-Senat, also bereits zu Beginn der großen Serie wissenschaftlicher Sozialexperimente, ohne deren empirische Ergebnisse abzuwarten.

Mit diesem Scheitern bewegten sich fortan vor allem die USA in eine völlig andere Richtung, die sich in wichtigen Aspekten interessanterweise in direkter, öffentlicher Opposition zur Grundeinkommensidee herausgebildet hatte: mit Workfare-Ansätzen, wirtschaftlicher Deregulierung, zunehmender Ungleichheit, wachsender Gesamtverschuldung (des Staates, der Privatwirtschaft und der Menschen), einem anschwellenden Finanzsektor, der Wiedereinführung der Todesstrafe, dem Ausbau des Gefängnissystems bis hin zu einer Inhaftierungsrate zeitweise auf Weltrekordniveau und mehr. In gewisser Weise wurde der optimistische Geist der Nachkriegsära mit seinem ausgeprägten „Great Society“-Liberalismus zunehmend zu einer blassen Erinnerung in einer ernüchternden Welt.

Schauen Sie sich, wenn Sie Zeit haben und vor einem englischen Video nicht zurückschrecken, das folgende kurze Video an, in dem der damalige kalifornische Gouverneur Ronald Reagan, der später als U.S.-Präsident zu einem der prägenden Politiker dieses historischen Epochen- und Politikwechsels wurde, öffentlich die Idee eines „garantierten Einkommens“ kritisierte und damit gegenüber dem politischen Kurs seines republikanischen Parteifreundes Präsident Nixon in Washington mit seinen eigenen wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Ideen profilierte, die später als „Reaganomics“ bekannt wurden und die Weltgeschichte für die nächsten Jahrzehnte erheblich beeinflussen sollten.

Gouverneur Ronald Reagan spricht am 22. Mai 1973 vor Schülern der Luther Burbank High School.

„Ronald Reagans spätere Wahl im Jahr 1980 rückte neue Ideen zur Reform des Wohlfahrtsstaates in den Mittelpunkt der Innenpolitik, die in direkter Opposition zur „Guaranteed Annual Income“-Politik entstanden waren und welche die Verdrängung entsprechender Pläne aus der nationalen Politik bedeuteten.“ [Übersetzung durch M.F.]

[Englisches Original: “Ronald Reagan’s subsequent election in 1980 brought to the forefront of domestic politics new welfare reform ideas that had arisen in direct opposition to GAI [=“Guaranteed Annual Income“] policies and that signaled the eclipse of GAI plans from national policymaking.”]

Brian Steensland 2008, p. 182

„Der ’neue Konsens‘ bei der Reform der Sozialhilfe, der sich in dieser Zeit herausbildete, gipfelte in Präsident Bill Clintons Gesetz zur Reform der Sozialhilfe von 1996, mit dem die staatlich geförderte Sozialhilfe abgeschafft wurde.“ [Übersetzung durch M.F.]

[Englisches Original: „The ’new consensus‘ on welfare reform that emerged during this period culminated in President Bill Clinton’s 1996 welfare reform legislation, which terminated government-sponsored welfare entitlements.“]

Brian Steensland 2008, p. 219

Allerdings hat dies nicht verhindert, dass die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens später in die öffentliche Diskussion zurückgekehrt ist, und dies in sehr viel breiterer Form.

Unsere internationale, interdisziplinäre Forschungsgruppe zum Zeitraum 1945-1980 sucht nach Antworten auf die Frage nach den Gründen für den negativen Ausgang der Debatte in den 1960er und 1970er-Jahren. Warum hat die Idee schon damals Aufmerksamkeit erregt? Aus welchen Gründen erlebt die Idee heute eine Renaissance, obwohl sie schon vor Jahrzehnten diskutiert und verworfen wurde? Damit zusammenhängend: Warum haben insbesondere die USA Mitte der 1970er-Jahre einen völlig anderen Weg eingeschlagen? Gab es einen Zusammenhang zwischen den Gründen für die Ablehnung der Einführung eines Grundeinkommens und dem stattdessen eingeschlagenen Entwicklungspfad? Welche Rolle spielten dabei kulturelle Deutungsmuster (zu Arbeit, Freizeit, Autonomie, der Legitimität bedingungsloser Zahlungen, dem technologischen Fortschritt, Gerechtigkeit, lebenslangem Lernen, Weiterbildung, biografischen Transformationen), welche Rolle die gesellschaftliche Machtverteilung oder handfeste Hindernisse technischer Natur? Dies sind allgemeine Fragen, die wir im Auge haben. Wir werden jedoch zunächst spezifische Studien durchführen, um wichtige Forschungslücken zu schließen. Anschließend werden wir diese neuen Ergebnisse mit bereits vorliegenden Forschungsergebnissen kombinieren und mit Anderen diskutieren, was sich zu den übergeordneten Fragen sagen lässt.

Eine kleine Sammlung von historischen Videos und Büchern zur UBI-Debatte in Nordamerika der 1960er- und 1970er-Jahre


Fußnoten:

1. Ein „Universelles“ oder „bedingungsloses“ oder „Bürger“-Grundeinkommen ist eine periodische Geldzahlung, die in einem Gemeinwesen bedingungslos an Alle auf individueller Basis ohne Bedürftigkeitsprüfung oder Arbeitsanforderung ausgezahlt wird (vgl. hierzu: Basic Income Earth Network 2021). Der Begriff „Garantiertes Einkommen“ wurde vor allem in den 1960er und 1970er-Jahren verwendet. Er hat eine breitere Bedeutung und umfasst auch direkte Geldzahlungen nur an Gruppen, die ein Einkommen benötigen. Milton Friedmans Idee einer „Negativen Einkommenssteuer“ (NIT) ist das bekannteste Konzept. In technischer Hinsicht scheinen die Unterschiede zwischen BGE und NIT nicht groß zu sein. Auf der Ebene des Rechtfertigungsdiskurses sind die Unterschiede jedoch erheblich: Ein BGE behandelt alle Bürger gleich. Ein NIT richtet sich nur an die Bedürftigen und impliziert daher immer noch eine Stigmatisierung, selbst wenn es großzügig und ohne Verhaltenskontrolle gewährt wird.

2. Die Idee einer „negativen Einkommenssteuer“, die über eine „Negativsteuer“, d.h. eine Zahlung des Finanzamtes an einen Bürger mit geringem Einkommen, ein Mindesteinkommen garantieren soll, wurde von dem Ökonomen Milton Friedman in seinem Buch „Kapitalismus und Freiheit“ entwickelt. Weiterlesen ….


Erwähnte Literatur:

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